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Die New Yorker Tagebücher – von Stephanie Hanel

Wie alles begann

Es war schon länger die Rede davon, dass mein Mann beruflich nach New York gehen könnte. Plötzlich nahmen die vagen Pläne Fahrt auf und es stand eine Entscheidung an. Ich war hin- und hergerissen, denn ich hatte einen gut angesehenen freien Job und mein Ehrenamt als BücherFrauen-Vorsitzende, gleichzeitig war der freie Job zwar sehr fordernd, doch dafür nicht angemessen bezahlt, und das Ehrenamt könnte im nächsten Jahr abgegeben werden. Und New York lockte. Eine Arbeit würde ich dort nicht einfach so finden, das war klar. Und erst einmal wäre es dann meine Aufgabe, der Tochter den Schulstart zu erleichtern und den Hund einzugewöhnen. Und sonst? In einem Gespräch mit meiner Tochter Paula entstand die Idee, dass ich Chronistin des Abenteuers werde könnte – und das Tagebuch-Projekt war geboren.

Wie es weiter ging

Wenn ich ganz ehrlich bin, verlockte mich an dem ganzen Plan zunächst die Aussicht, all den Ballast abzuwerfen, der sich typischerweise in einem Kinderhaushalt ansammelt. Vor allem, wenn die Eltern auch eher Sammler als Puristen sind. In unserem Fall waren auch noch Habseligkeiten anderer Menschen an uns hängengeblieben, und es wurde dringend Zeit für einen schlankeren Neustart. Unser Sohn wohnte schon nicht mehr bei uns – das Haus kam uns in jedem Fall zu groß vor ohne ihn. In der Zeit der Haushaltsauflösung und des Hausverkaufs entstand die erste Hälfte meines Buches „100 Tage hier & 100 Tage dort“. Für die letzten hundert Tage in der alten Heimat war das tägliche Tagebuchschreiben Fixpunkt im wirbelnden Chaos. Hilfreich um Abstand und Halt zu finden. Gleichzeitig wollte ich zeigen, dass funktionieren kann, was wir uns vorgenommen haben. Und warum es manchmal nötig ist, etwas vermeintlich Verrücktes zu tun. Und wie der Preis dafür aussieht. Ein Experiment am eigenen Leib also.

Was dann kam

Dann kam der Tag X und wir waren in New York – genauer gesagt in Park Slope in Brooklyn – gelandet und konnten es kaum fassen. Zwischen Heimweh-Tränen und Augenaufreißen bei all den Eindrücken, die uns fluteten, mussten wir so etwas wie einen neuen Alltag etablieren. Von der ersten Freude über neue Entdeckungen und den organisatorischen Hürden handeln also die zweiten hundert Tage. Parallel dazu entstand die Buchfassung, denn Lektorin Maren las schon mit, während ich noch schrieb. Zeichnerin Melanie war ebenfalls früh am Werk, Korrektorin Jana super schnell, Grafikerin Christine von Anfang an involviert. Wenn ich daran zurückdenke, erscheint es mir, als wäre das erste Buch wie von selbst entstanden! Familie und Freund*innen konnten fast aktuell teilhaben. Auch die regionale Presse back home interessierte sich für die „Auswanderungsgeschichte“. Alles geglückt also, und ich war froh, meine beiden Welten auf diese Weise miteinander verbunden zu haben.

Next steps

Wie so oft ist der zweite Schritt schwerer als der erste – ich machte Tagebuchpause und wusste noch nicht, wie es weitergehen soll. Nach zwei Monaten hielt ich es nicht mehr aus und startete von Neuem. Es war Winter, unsere in der Rückschau nicht nur deshalb härteste Zeit überhaupt: Jobprobleme, Zweifel, Konfrontation mit den politischen Geschehnissen im Land, kurz ‚das Ankommen ohne Adrenalin‘, wie Buchbloggerin Dagmar später dazu schreiben würde. Ich setzte also das Tagebuchprojekt fort, tat es aber zunächst nur für mich. Und ließ das Geschriebene den ganzen Sommer über liegen. Im Herbst las ich es mit neuem Mut und merkte, dass die „50 Tage in Brooklyn“ ihren ganz eigenen Charme haben – reduziert und sehr echt. Trotzdem fehlte mir noch etwas und Grafikerin Christine hatte die passende Idee: der deutschen eine englische Version zur Seite stellen und damit auch das Ankommen im neuen Sprachraum sichtbar machen. Sohn Nick übernahm begeistert den Übersetzungspart, in den gemeinsamen Weihnachtsferien in Woodbury (Connecticut) wurde letzte Hand angelegt und dann half uns Max, der in seiner Kindheit in Heidelberg lebte aber gebürtiger Amerikaner ist, den Feinschliff zu machen. Das entstandene schmale Bändchen weckt immer besondere Gefühle in mir, denn während der Abschlussarbeiten daran starb unsere treue Hündin Lissy. Das veränderte mein Leben komplett.

Und so …

… beginnt der dritte Band „Goodbye New York. Abschied von der neuen Heimat“ mit diesem Verlust und der Entscheidung, dass wir wieder nach Deutschland gehen werden. Es fiel uns nicht leicht, aber in der Rückschau war es das Richtige. Nach der besonders innigen letzten Zeit mit Lissy musste ich mich nun schrittweise an meine andere Freiheit gewöhnen. Und habe sie dann intensiv genutzt, um mir alles einzuverleiben, was ich so gerne mitnehmen wollte an Kunst- und Kulturgenuss, an kreativem Freiraum und Inspiration, von der ich beschlossen hatte, noch lange zehren zu wollen. Auch wenn in Deutschland erst einmal ganz ordentliche Herausforderungen und viel Fleißarbeit warten würden. Ehrensache, dass es wieder ein Tagebuch zu den letzten hundert Tagen in Brooklyn und den ersten hundert Tagen am neuen Standort in Heidelberg geben sollte! Das Abschiednehmen wurde mir tatsächlich zu einem Fest vielseitiger Eindrücke, und ich schrieb wie besessen, um möglichst viel festzuhalten. Aber es kam nie zu den hundert Tagen des Ankommens, ich schrieb bis Tag 30, unserem Einzug in der Bahnstadt, und musste dann feststellen, dass eine ganz andere Geschichte begonnen hatte. Über die ich vielleicht irgendwann einmal schreiben würde. Zunächst einmal wollte ich das New York ‚Kapitel‘ abschließen … doch auch da stellte sich bald heraus, dass ich zwar mein Tagebuchprojekt abschließen kann, aber New York und ich noch längst nicht miteinander fertig sind.

Wieder …

… kam ein März, und das neue Buch heraus! In die Freude über das abgeschlossene Projekt mischte sich von Anfang an die Sorge, und tatsächlich kam bald darauf der Corona-Lockdown. In New York ging gefühlt die Welt unter. Von da an begann jedes Gespräch mit dem Satz ‚wie gut, dass ihr rechtzeitig zurückgekommen seid‘, und irgendwie schien alles, was wir zu New York zu sagen hatten, komplett veraltet. Das Leben ging aber auch in New York weiter – trotz der dramatischen Geschehnisse und Zahlen war für die Meisten der Alltag in der Krise die Herausforderung. Da ich noch viele Newsletter bezog, konnte ich mitverfolgen, wie Buchhandlungen, Kulturinstitutionen und andere Einrichtungen eine Vielzahl an Ideen und Konzepten umsetzten, um der Krise zu begegnen. Auch die Nachrichten von Freund*innen und Bekannten waren erst einmal beruhigend. Mittlerweile öffnen auch dort die Geschäfte wieder und wir hören dort wie hier von Menschen, die ihr Leben umgestellt haben oder, gezwungen durch die Umstände, neue Wege suchen und finden.

Da waren doch noch …

… ja, die sogenannten Unruhen. Die so unfassbar überfälligen Black Lives Matter Demonstrationen! Ich habe mitgefiebert und gebangt und gehofft. Dass ‚die Polizei‘ in Amerika etwas ganz anderes ist als unserem Verständnis nach, wussten wir alle. Wie tief und flächendeckend falsch, wurde durch die Reaktionen auf die Demonstrationen überdeutlich.

Wie kann man in solchen Zeiten ‚harmlose‘ Tagebücher veröffentlichen? Ich denke, weil alles durchscheint. Weil die großen Probleme immer auch im Alltag präsent sind und dadurch vermittelt werden. Weil wir uns oft genug die Augen reiben und gerne sagen würden „oh, wo kommt das denn jetzt her“, wenn es ‚plötzlich‘ knallt, und wir uns doch eigentlich immer eingestehen müssen, dass alles schon da war und nur eine Frage der Zeit … In New York jedenfalls haben sich wieder einmal unfassbar viele engagierte Menschen auf die Suche gemacht und entdecken schwarze Kultur neu, setzen sich mit dem großen alten Konflikt auseinander, und wollen ihre Stadt zu einem besseren Ort machen. Und nein, nichts ist vergebens.

Stephanie Hanel – Foto © privat

Ausblick

Demnächst wird es eine Gesamtausgabe der New Yorker Tagebücher geben und sie wird auch meine „Briefe aus Brooklyn“ enthalten, die ich 2017/2018 für den Blog der BücherFrauen schrieb. Sie sollten erste Entdeckungen rund um Bücher und Buchmenschen transportieren und sie enden da, wo ich bald wieder ansetzen werden – bei inspirierenden Künstler*innen. Ich danke allen, die mich schon lesend begleitet haben, und freue mich über neugierige neue Leser*innen! Wenn mein Tagebuchprojekt dazu beitragen kann, Entdecker*innenfreude zu wecken, würde mich das sehr glücklich machen!

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Stephanie Hanel wurde in München geboren. Sie ist Politikwissenschaftlerin und veröffentlichte ihre Magisterarbeit zum Werk der Autorin Irmtraud Morgner. Sie ist für Verlage und andere Auftraggeber*innen als Redakteurin, Autorin und Texterin tätig. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in New York lebt und arbeitet sie seit Sommer 2019 in Heidelberg. Ihr erstes Kinderbuch „Eine Bärengeschichte“ erschien 2011 im Achter-Verlag. Es folgte „Linns Abenteuer“ und eine Trilogie im Tagebuchstil über ihre Zeit in New York – „100 Tage hier & 100 Tage dort“, „50 Tage in Brooklyn“ (zweisprachig) und „Goodbye New York, Abschied von der neuen Heimat“. Sie ist Mitglied der BücherFrauen Rhein-Neckar.

 

Ein Beitrag von Stephanie Hanel zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig


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Evelyn Kuttig

Evelyn Kuttig

Ich arbeite(te) als Grafikdesignerin, Projektmanagerin, Rechercheurin, Redakteurin und Texterin. – Das Blog enthält Berichte aus meinem Arbeitsalltag und Gastbeiträge aus vielfältigen Arbeitsfeldern, die zur Entstehung von Büchern beitragen. – Auch im Ruhestand stehe ich Interessierten mit meinen vielseitigen Kenntnissen und Erfahrungen und psychologischem Gespür immer noch gerne mit Rat und Tat und Empfehlungen zur Seite.

2 Gedanken zu „Die New Yorker Tagebücher – von Stephanie Hanel“

  1. Ich freue mich auf die Gesamtausgabe der New Yorker Tagebücher! Authentischer geht’s nicht!
    Danke an Evelyn Kuttig für den Beitrag der tollen (und gut aussehenden) Autorin Stephanie Hanel!

    1. Herzlichen Dank für die Anerkennung, liebe Ellen Hildebrandt. Inzwischen ist die Gesamtausgabe erschienen, hat Stephanie sogar schon daraus öffentlich gelesen. Ich würde mich freuen, wenn sie sich wieder zu einem Blog-Beitrag entscheidet 😉

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