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„Tanz auf der Planstelle“ – von Dörte von Westernhagen

Gedichte
Gedichte 1979
sachlich richtig
Sachlich richtig

1974 gab es in Niedersachsen einen Regierungswechsel von der SPD zur CDU. Ich wurde abgemustert, d.h. vom Wissenschaftsministerium zum Regierungspräsidium Stade abgeordnet. Die neue Regierung brauchte freie Stellen für ihre Leute. Die Vorbehalte gegen die Provinz gingen allmählich in neugieriges Staunen über. Vom Land an der Elbe, von Stade, vom Innenleben einer „Mittelinstanz“, dem Regierungspräsidium, hatte ich ja keine Ahnung. „Der Tanz“ begann.

Mein Mann hatte sich kurz zuvor von mir getrennt – ein gegebener Anlass, um Gedichte zu schreiben. Bald darauf noch ein Glücksfall: Der kunstbeflissene Katastrophenschutzbeauftragte der „Regierung“ stellte mich einem Maler vor, der in Stade lebte. Dieser lud mich in sein Atelier in einem alten Speicherhaus am Hafen ein und führte mich in die Kunst des Aquarellierens ein. Ab und an las ich ihm die Gedichte vor. Einmal nahm ich ihn mit in die Behörde. Der Besuch regte ihn zu Zeichnungen an. Das Gedichtbändchen „Auf dem Dienstweg“ entstand. Der Umschlag, den der Maler entwarf, war eine Verkleinerung der roten Behördenlaufmappen. Im vorletzten Kästchen stand D 503, das Kürzel für das Dezernat Wasserrecht, wo ich beschäftigt war, dann „Abs“ für Absendung.

Die kleine Stadt und ihr Umland, die Kollegen in der Behörde, die Deichschauen, die Gerichtstermine im Moor und am Elbdeich boten Abstruses, Pittoreskes und Schönes. Ich schrieb auf, was mir begegnete und schob das Geschriebene unter die Schreibtischauflage, wenn jemand reinkam. Freitagnachmittag kam meistens niemand mehr.

Nach einigen Jahren quittierte ich den Öffentlichen Dienst und verdiente mein Geld als Journalistin für diverse Zeitungen und Rundfunkanstalten, darunter auch der Südwestfunk Baden-Baden. Dort gab es einen Redakteur, für den ich besonders gern arbeitete. Die Stade-Manuskripte schlummerten in irgendeinem Aktendeckel und waren längst vergessen. Aber als er eines Tages erzählte, er sei ein abgebrochener Jurist, wobei er aus seinem Groll gegen Bürokraten und Paragraphenreiter keinen Hehl machte, holte ich die alten Geschichten hervor. Als Erstes bastelten wir ein Rundfunk-Feature. Dann schlug er vor, ein Buch zu machen; er hatte einen kleinen Verlag.

Tanz
Geschichten 1992

Der „Tanz auf der Planstelle“ war da. Ein Professor der Stuttgarter Kunsthochschule hatte das Titelbild entworfen – zwei Figurinen, die auf einem Stempel tanzen. Mein erstes richtiges Buch, 1992 erschienen. Das Gedichtbändchen hatte ich ja in der Offizin eines Freundes selbst verlegt und finanziert.

„Der Tanz“ war noch nicht lange im Buchhandel, als ein Anruf aus der Schweiz kam. Der Verlag meines Redakteurs war in Konkurs gegangen, ein Schweizer Verlag hatte ihn übernommen. Der Anrufer sagte: „Entweder wir stampfen die Auflage ein oder Sie übernehmen sie – es kostet Sie nichts.“ Ich übernahm die Restauflage, ohne eine Vorstellung, wie viele Bücher es noch waren.

Ein paar Wochen später: Ein Freund, sein VW-Bus und ich standen in Stuttgart-Vaihingen vor der Verlagsauslieferung von Koch, Neff, Oetinger, einem riesenhaften Umschlagplatz für Bücher, als ein Gabelstapler auf die Rampe fuhr – bis oben hin vollgepackt mit Pappkisten in grauer Farbe. Der Fahrer konnte grade noch oben drüber gucken. Auf dem Lieferschein stand: „17 Packst. à 65 Exemplare.“ Wir rechneten damals nicht, schleppten die Kisten in den VW-Bus und fuhren ins Remstal. Mein Freund bewohnte dort einen Resthof, wo wir die Kisten in einer der unbewohnten Kammern verstauten.

Aber was nun? Eine Dada-Ausstellung, eine Pyramide aus Büchern, von der Freunde, Bekannte, Besucher sich so viele nehmen können, wie sie möchten? Nein – die Bücher sind kein Ramsch. Mit der Zeit stellte sich eine Lösung: Wir verschenken die Bücher zu jeder sich bietenden Gelegenheit, zu Geburtstagen, als Dank für Hilfe oder eine Gefälligkeit.

Mittlerweile sind fast zwanzig Jahre vergangen. Noch sind ungefähr hundert Exemplare übrig, anderthalb Kisten. „Der Tanz“ hat sich gehalten. Die Texte sind frisch geblieben. Sie erheitern Menschen, die in Behörden arbeiten; zuweilen, wenn ich mal reinschaue, auch mich. Auf die Rückseite des Umschlags ließ der damalige Redakteur/Verleger den Satz drucken: „Diese abseitig-absurden, aber auch poetischen Skizzen beschreiben die Suche einer jungen Verwaltungsbeamtin nach ihrer eigenen Lebendigkeit.“

Weitere Werke:
• Die Kinder der Täter: Das Dritte Reich und die Generation danach, Kösel 1988 – Rezension
• Und also lieb ich mein Verderben, Wallstein 1997
• „Ve wishen der Fischenkarten“: Mark Twain und Hemingway im Schwarzwald, Wuz 2001
• Von der Herrschaft zur Gefolgschaft: Die von Westernhagens im »Dritten Reich«, V&R Unipress 2012 – Rezension

Auszeichnung:
1993 – Erich Maria Remarque. Friedenspreis der Stadt Osnabrück

Text und Abbildungen: Dörte von Westernhagen

Ein Gastbeitrag zum Thema „Buchherstellung“, Evelyn Kuttig

aktualisiert: 12. Juli 2023


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Evelyn Kuttig

Evelyn Kuttig

Ich arbeite(te) als Grafikdesignerin, Projektmanagerin, Rechercheurin, Redakteurin und Texterin. – Das Blog enthält Berichte aus meinem Arbeitsalltag und Gastbeiträge aus vielfältigen Arbeitsfeldern, die zur Entstehung von Büchern beitragen. – Auch im Ruhestand stehe ich Interessierten mit meinen vielseitigen Kenntnissen und Erfahrungen und psychologischem Gespür immer noch gerne mit Rat und Tat und Empfehlungen zur Seite.

3 Gedanken zu „„Tanz auf der Planstelle“ – von Dörte von Westernhagen“

  1. Es ist mir über das Internet bisher nicht gelungen eine e-amil-Adresse von Dr. Dörte von Westernhagen zu erhalten. Ich möchte sie in Sachen einers Familienangehörigen und als alte Bekannte aus Hamburger Studientagen gerne kontaktieren. Können Sie mir eine Adresse mitteilen? Das wäre freundlich und sicher hilfreich.

    Gru, B. Riese, flurstr.10, 82110 Germering

  2. Die Sammlung von Begebenheiten und Eindrücken in „Tanz auf der Planstelle“ ist vielfältig und trocken-humorig erzählt … Als Beispiel die Schlussfolgerung aus der Geschichte „Die Derzernentenbesprechung“: „Bei einer Dezernentenbesprechung sprechen nicht die Dezernenten, sondern sie werden besprochen, wie eine Warze.“

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