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Meine Abenteuer beim Übersetzen, 31: Ich war zu Schullesungen – mit Linde Hagerup

Linde Hagerup – Foto © Widar Ludvigsen

Drei Schulen haben wir besucht, Linde Hagerup und ich. Alle in Halle an der Saale, eine Stadt, von der ich nur wusste, dass dort die Himmelsscheibe von Nebra beheimatet ist. (Die allerdings ausgeliehen war, an eine Himmelsscheibenausstellung, in Den Haag, glaube ich.) Und an der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn, das weiß ich noch aus dem Schulliederbuch, aber ich kam vor lauter Lesungen nicht dazu, mehr als einen kurzen Blick auf den hellen Strand zu werfen. Also, die Lesungen. Linde hat das wunderbare Buch „Ein Bruder zu viel“ geschrieben. Es handelt von Eltern, die immer kumpelhaft so tun, als wären sie die besten Freunde ihrer Kinder; wenn es ernst wird, entscheiden sie dann aber, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kinder. Womit die Heldin Sarah im Buch in eine üble Lage gebracht wird. Was würdet ihr tun, wurden die Kinder gefragt.

Sie waren zwischen 8 und 12, und natürlich ein Haufen von kleinen und größeren IndividualistInnen. Immer ein Kind in der Klasse, das sich unbedingt profilieren und zeigten muss, dass es über das erhaben ist, was diese IdiotInnen da vorn erzählen, immer einige, die das alles ungeheuer interessiert, denen aber anzusehen ist, dass sie nicht zu fragen wagen. Dann solche, die total überraschende Beiträge bringen. Ein kleiner Junge schaute aus großen Augen Lindes Originalbuch an und flüsterte seinem Freund zu: „Englisch!“ –„Nein, nein“, sagte ich. „Das ist Norwegisch.“ Das warf ihn dermaßen um, dass er nur ehrfurchtsvoll (echt!) „Norwegisch“ murmelte und dann total verstummte. Alle wollten immer wissen, wie Linde Schriftstellerin geworden ist (niemanden interessierte, wie ich Übersetzerin geworden bin), und ein Mädchen stellte eine Frage, die Linde nach neun Büchern und zahllosen Lesungen noch nie gestellt worden war: „Sind Sie glücklich als Schriftstellerin?“

Die norwegische Autorin Linde Hagerup und ihre Übersetzerin Gabriele Haefs bei einer Lesung in einer Schulklasse in Halle – Foto © privat

Was fehlte, war der bei Lesungen für Erwachsene unvermeidliche Archetyp, der Herr mittleren Alters, der eine lange, wohlformulierte Frage stellt, die rein gar nichts mit dem Thema zu tun hat. Was natürlich erholsam ist, aber das heißt nicht, dass die Gedanken der Kinder auch ihre eigenen Wege gehen. Ein Junge, der einfach nicht stillsitzen konnte, aber durchaus nicht den Eindruck machte, dass er stören wollte, er konnte einfach nicht anders, wurde auf Norwegisch ermahnt: „Hold kjeft!“ Das fanden alle sehr klangvoll. Ihnen wurde erklärt, dass es „halt die Fresse“ bedeutet, dann wurde erklärt, wie man das schreibt und wie es ausgesprochen wird, die ganze Klasse sang im Chor: „Hold kjeft!“ und hatte was fürs Leben gelernt. Dann wollte aber jemand wissen, ob Linde den Fußballstar Haaland kennt. Sie sprachen ihn allesamt falsch aus, weil deutsche Sportreporter es eben nicht nötig haben, sich über sowas zu informieren. Linde erklärte, klar kennt sie den, alle in Norwegen kennen ihn, aber es wird „Hoolan“ gesprochen, was alle brav wiederholten, dann riefen sie energisch „Hoolan! Hoolan!“, wie um ihn anzufeuern, und danach hatten sie großes Interesse am Schicksal der armen Sara im Buch.

Anstrengende Lesungen erfordern nahrhafte Kost! – Foto © privat

Es war also total witzig und lehrreich. Und auch dies ist interessant: An der ersten Schule hing an der Tür die Mitteilung: „In der Schule ist Scharlach aufgetreten!“ An der zweiten hing an der Tür die Mitteilung: „In der Schule ist Corona aufgetreten.“ Wir waren sehr gespannt, was an der dritten Schule aufgetreten wäre. Wir wurden auch nicht enttäuscht. „In der Schule sind Kopfläuse aufgetreten.“ Eine vierte Schule haben wir dann leider nicht besucht.

Ein Beitrag zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig


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Gabriele Haefs

Gabriele Haefs

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