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Wiedersehen mit einer Übersetzung: „Milchmädchen“ von Giancarlo Gemin

 

Giancarlo R. Gemin – Foto © privat

Es ist frustrierend, wie viel man vergisst. Ein Buch, das ich übersetze, lese ich doch viele Male, in der Originalsprache, in meinen unterschiedlichen Übersetzungsversionen, sollte es in- und auswendig kennen … aber nun liegt die Taschenbuchausgabe von „Milchmädchen“ vor mir, etwa sechs Jahre, nachdem ich die Übersetzung abgegeben habe, und was weiß ich noch?

Vor allem die Vorgeschichte, die ist nämlich wunderschön. Der großartige Verlag Königskinder, den es leider nicht mehr gibt (ewige Schande!), fragte an, ob ich fürs nächste Winterprogramm ein Buch übersetzen könnte. Welches, wüssten sie noch nicht, und aus welcher Sprache, auch nicht. Das war doch mal ein Angebot, was ich nicht ablehnen konnte! Ich bat nur darum, sie sollten eine Sprache aussuchen, die ich lesen kann. Und dann kam dieses Buch, von dem walisischen Autor Giancarlo Gemin, von dem ich noch nie gehört hatte. Trotz des Namens ist er ein echter Waliser – in einem anderen Buch, das hoffentlich auch bald wieder auf Deutsch vorliegen wird, schildert er, wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts viele Menschen aus Italien nach Wales gingen, anfangs, weil in den Kohlebergwerken dringend Arbeitskräfte gebraucht wurden. In „Milchmädchen“ ist dieses Thema nicht so wichtig, auch wenn einige italienische Nachnamen vorkommen: Hier geht es um Kühe.

Das wusste ich noch, triste Terrassensiedlung in Wales, alles total heruntergekommen, die Leute, die dort wohnen, verstecken zwölf Kühe, die sonst im Schlachthof enden würden. Mehr nicht – wie konnte ich vergessen, dass (wir sind schließlich in Wales) im Wohnzimmer der Heldin Gemma eine kleine Tom-Jones-Statue steht? Die Statue fällt bei einem Streit zwischen Gemma, ihrem Bruder und ihrer Mutter, herunter und geht in Stücke. Und als der Vater ein Wochenende Hafturlaub hat, fragt er als erstes nach Tom Jones und kann sich ohne das geliebte Zierstück gar nicht richtig zu Hause fühlen.

Gemma ist 14, sie wohnt also in Bryn Mawr, wie die Siedlung heißt, ihr Vater ist im Knast, ihre Mutter erschöpft und abgearbeitet, ihr Bruder Darren auf dem besten Weg zu einer Karriere als jugendlicher Delinquent. Gemma hat Angst vor Sian, die in ihrer Klasse alles bestimmt, heimlich bewundert sie Kate, von Sian nur „Cowgirl“ genannt, weil die sich weder von Sian noch von den bösen Jungs aus Darrens Clique etwas bieten lässt, und in einem schicksalhaften Augenblick stellt sie sich auf die Seite von Kate. Womit sie für Sian erledigt ist und eigentlich mit endlosem Mobbing rechnen müsste, aber: Nun kommen die Kühe.

Kates Spitzname sagt es ja schon, sie hat mit Kühen zu tun, und wie nun alles weitergeht, wird nicht verraten. Die Kühe werden also in Bryn Mawr versteckt, vor allem bei alten Leuten, die sich sonst, aus Angst vor den jugendlichen Delinquenten, kaum noch auf die Straße trauen. Alte Kenntnisse werden aktiviert: So hat Gemmas Oma im Krieg als Landwirtschaftshelferin Melken und Käsemachen gelernt und bald sind ihre Käse überall begehrt. Natürlich schreiten irgendwann die Behörden ein, und der offizielle Besitzer der Kühe will sie zurückhaben, weil sie ja zum Schlachthof sollen! er will sein Geld. Ganz Bryn Mawr aber hält zusammen, und dass die Kühe gerettet werden, ist von Anfang an klar, jedenfalls uns, beim Lesen. Wie sie das machen, und wer alles mithilft, das ist das Spannende. Und spannend auch, wie Giancarlo Gemin sein Buch aufbaut, ganz nebenbei werden Fragen gestellt: Wieso nach mehreren Ausbrüchen der Maul- und Klauenseuche in Wales plötzlich nur noch Großbetriebe überleben können. Wieso wir zulassen, dass Kühe nur ausgebeutet werden? Wieso werden Kühe so schnell und brutal von ihren Kälbern getrennt? Wieso einfach jemand beschließen darf: „Die Kühe Jane und Sioned geben nicht mehr genug Milch, ab in den Schlachthof?“ Namen bekommen die Kühe übrigens erst in der Siedlung, wo ihre Menschen erfahren, wie unterschiedlich auch Kuhgemüter sein können, und wie wunderbar eine Kuh ihren Menschen Gesellschaft leistet. Und ein Kalb wird auch in Bryn Mawr geboren, die Idylle wäre also komplett. Wenn nur nicht die Behörden wären …

Hierin wird Giancarlo Gemin zum Thema Labskaus in Wales interviewt

So viel hatte ich vergessen, so glücklich war ich über die Gelegenheit, das Buch noch einmal zu lesen! Vergessen hatte ich auch, dass ich damals eine Liste der im Text vorkommenden walisischen Wörter machen durfte, mit Aussprache! Die ist auch in der neuen Taschenbuchausgabe vorhanden.

Giancarlo Gemin: Milchmädchen. Carlsen Verlag, 272 S., 7,99, ISBN 978-3-551-31965-4, Originaltitel: Cowgirl

Ein Beitrag von Gabriele Haefs zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig

 


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Gabriele Haefs

Gabriele Haefs

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